Moderne Arbeiterklasse: Beschäftigte über Alltag in Werkhallen

2022-11-03 15:38:22 By : Mr. Allen Liu

Warum sehe ich FAZ.NET nicht?

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Der klassische Blaumann hat vielerorts ausgedient. Doch auch in der High-End-Fertigung heißt es „Arbeiter bleibt Arbeiter“. Sechs Beschäftigte schildern ihren Alltag in modernen Werkhallen.

21. Oktober 2021 Text und Protokolle: RALF NIEMCZYK Fotos: SEBASTIAN LOCK

Zehn Jahre ist es her, als auf der Hannover Messe mit viel PR-Zinnober zum ersten Mal der Begriff „Industrie 4.0“ lanciert wurde. Seitdem wurden Buzzwords wie „Internet der Dinge“, „Smart Factory“ oder „Advanced Manufacturing“ dermaßen oft verwendet, dass die wirklichen Veränderungen in der Arbeitswelt von außen nur sehr polarisiert wahrgenommen wurden. Etwa als LED-gleißende und weitgehend menschenleere Halle, in der schockfarbige Roboterwesen unermüdlich punktschweißen. Ein Szenario, das sich aus der dritten industriellen Revolution gehalten hat.

„Das falsche Bild; schließlich gibt es viele Menschen, die dafür sorgen, dass die neuen Technologien am Laufen bleiben“, sagt Stefan Aßmann, Chief Digital Officer für der Bereich Industrial Technology bei Bosch. „Gerade in einer hochspezialisierten Fertigung mit teilweise niedrigen Stückzahlen braucht es flexible Strukturen, die von Robotern allein gar nicht zu leisten sind.“ Gleichzeitig seien „repetitive Fähigkeiten“, also etwa das hundertfache Anziehen der immer gleichen Schrauben durch Menschenhand, schon jetzt ein Auslaufmodell, da zu teuer. Diese Arbeit verschwindet oder verabschiedet sich in den Billiglohnsektor.  

„Mit der digitalen Transformation ist nicht das Ende der Industriearbeit angebrochen“, formulierte Digitalexpertin Constanze Kurz bereits 2014 in einem Papier für die IG Metall. Voraussetzung dazu sei allerdings die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen, stärkeres interdisziplinäres Handeln und Denken, höhere ITKompetenz, die Fähigkeit zum permanenten Austausch mit Maschinen und vernetzten Systemen. Ein seitdem vielfach gehörtes Mantra.

Das alles ist weit weg vom sprichwörtlichen Blaumann, der in der heutigen Produktion ohnehin weitgehend durch schmucke Polohemden und Funktionscargohosen ersetzt wurde. Schmutz und Schmierflecken werden heute gerne als Synonym für „früher“ benutzt. Mit der digitalen Transformation scheinen auch die allerletzten Reste einer Arbeiterklasse zu verschwinden, deren Abschied mit dem Untergang des alten Ruhrgebiets längst begonnen hatte. Dennoch heißt es auch in High-End-Hallen „Arbeiter bleibt Arbeiter“. Allerdings mit einem Selbstbewusstsein, das sich nicht über rustikale Milieus mit Kneipe oder Stehplatzdauerkarte definiert. Tech-Wissen ist an diese Stelle getreten. Programmieren können, zumindest ein wenig. Fortbildung regiert. Als Dauerzustand, außerhalb oder während der Arbeit. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, wer dieses Tempo nicht mitgehen kann oder will, ist auf absehbare Zeit draußen. Die viel beschworene Polarisierung des Arbeitsmarkts zwischen Hoch- und Niedrigqualifizierten setzt sich weiter fort. Die meisten Firmen tun viel dafür, ihre Facharbeiterschaft bei der Stange zu halten. Die neuen Anforderungen und der verschärfte Rhythmus werden offen kommuniziert und durch diverse Maßnahmen aufgefangen. Ein Digital Native zu sein, der sich mit Benutzeroberflächen auskennt, reicht allerdings nicht. Zwischen TikTok und KI-basierter Null-Fehler- Produktion mit „Edge-Computing“ oder „Edge-Cloud“, wie es im Innovationssprech heißt, liegen dann doch drei Ausbildungsjahre. Upgrades erwünscht.

Wir stellen sechs Menschen vor, die in dieser neuen Industrie keine Bedrohung sehen. Mitziehen ist dabei Kernkompetenz; es soll sogar Spaß machen.

In der Ausbildung zum Elektroniker für Automatisierungstechnik haben wir anfangs Elektriker-Skills gelernt. Vom Ohmschen Gesetz über Leitungsverlegung bis hin zum Platinenlöten. Auch blutige Finger beim Verdrahten von Schaltschränken gehörten dazu. Bald jedoch ging es zu den Produktionsanlagen mit Systemschulungen und Programmiersprachen. Schnell wurde aus Theorie dann Praxis: Die erste Anlage, die wir selbst programmiert haben, bewegt sich. Wir steigerten die Komplexität – zwei Anlagen verbinden, einen Sensor dazwischenschalten, stopp, eine Lampe leuchtet, nachjustieren, und weiter geht’s! Wir waren stolz, es wurde gefilmt und gezeigt. Woanders feilt oder schreinert man sein Gesellenstück: Wir simulierten eine Fertigungslinie.

Ein zusätzliches Fachstudium brachte mich zu Porsche, als Instandhalter in den Karosseriebau des Macan. 95 Prozent Automatisierungsgrad, rund 400 Industrieroboter, die im Minutentakt schweißen, falzen, kleben. In der Ausbildung gab es klackende Schaltschränke mit rot flackernden Meldelämpchen. Hier wird über die effiziente Programmierung von Robotern diskutiert. Auf manche Menschen wirkt dieser perfektionierte Tanz der Maschinen gespenstisch – ich wollte wissen, wie das alles funktioniert. Nach sechs Monaten Schulung war ich dann Steuerungstechniker.

Eine klassische Wartung, nur komplexer. Wir haben die gesamte Fertigung im Blick. Für die Produktion sind wir abrufbereit, aber auch die Prozesstechnik unterstützen wir als Anlagenexperten.

„Wir sehen uns noch als Arbeiter. Wir stellen ja etwas her. Ein Mechaniker mit einem Laptop bleibt ein Arbeiter.“

Immer wichtiger ist die Daten- und Prozesssicherung, liefert doch die Auswertung Informationen zum Zustand der Maschine. Doch die Werkzeugkiste ist nicht verschwunden. Es ist eine Kombination, auch die Mechaniker setzen längst Laptops ein. Als papierlose Fabrik wird jede Mitteilung, werden alle Einträge in Schichtbücher digital erledigt. So sind auch Mechaniker rund ein Viertel ihrer Zeit am Rechner. Nach einer Störung wird direkt im System vermerkt, wo es geklemmt hat. Diese Daten bieten viel Potential. Und so wurde ich zum Tec-Client-Koordinator. Ein Job, den es vor drei Jahren so noch nicht gab. Dieser stetige Erneuerungsprozess hat Hierarchien flacher gemacht, entschieden wird in Teams. Selbst die Gestaltung des Umfeldes – heller, moderner und angenehmer – hat nichts mehr von der alten Fabrik. Das bedeutet aber auch mehr Herausforderung und nicht etwa, dass unsere Halle menschenleer ist oder jemals sein wird. Die klassische Handarbeit gibt es noch – zum Beispiel im Finish-Bereich der Macan-Motorhaube. Das kann kein Roboter. Auch in der Montage gibt es noch viele manuelle Tätigkeiten, doch statt 500-mal am Tag dieselbe Handbewegung wie früher, am alten Fließband, wird heute rotiert. Wir sehen uns noch als Arbeiter. Definitiv. Wir stellen ja etwas her, leisten echte Arbeit. Ein Mechaniker mit einem Laptop bleibt ein Arbeiter. Es wird nur komplexer, welche Fähigkeiten wir mitbringen müssen. Weiterbildung ist Dauerzustand. Inzwischen übernehme ich immer mehr Tätigkeiten in der IT-Planung. Die Zukunft sehe ich in Technologien wie Augmented Reality. Wie können Instandhaltungsteams eine ARBrille nutzen? Bislang muss ein externer Experte selbst für eine schnelle Maßnahme anreisen und quer durchs Werk. Jetzt hole ich ihn per Videosession dazu, gehe mit ihm über die Brille durch die Anlage. Er kann mir von außen sagen, wo was zu tun ist: Blend mir was ein, spiel mir eine Datei zu! Diese Optionen sind im Praxistest. Dann bekommt auch der ausführende Anlagentechniker eine AR-Brille. Und auch der muss den Umgang damit lernen. Was heute noch futuristisch wirkt, ist morgen Arbeitsalltag.

Markus Pruss: Nach meiner Feinmechaniker-Ausbildung bei Blaupunkt in Hildesheim wechselte ich 1987 zu Bosch, zur Instandhaltung einer kompletten Fertigungsanlage nach alter Schule. Heute kümmere ich mich um eine absolute Hightechproduktion, bei der auf einzelnen Linien zig verschiedene Motorsteuerungsgeräte entstehen. Das erfordert hohe Prozessvielfalt, zahlreiche Materialchecks und frühzeitiges Erkennen und Beheben von Störungen. Von dem, was ich ursprünglich mal gelernt habe, brauche ich bei der täglichen Arbeit recht wenig. Mal abgesehen vom technischen Verständnis. Alles andere kam in der Praxis und in Seminaren.

Viktoria Müller: Ich arbeite seit 2019 als Projektleiterin für Industrie 4.0. Der Umgang mit Zahlen und logischen Abfolgen lag mir schon immer, daraus wurde ein Maschinenbau-Studium. Gemeinsam mit Markus schaue ich mir Daten an, von der Anlieferung der Komponenten über Produktion und Versand bis hin zum Einsatz beim Kunden. Wenn ein Fehler auftritt, können wir nachvollziehen, an welchen Maschinen das Produkt gefertigt wurde, und gezielt reagieren. Auch haben wir das autonome Transportsystem KATE entwickelt. KATE transportiert Materialien „in time“ an die Linien. Dank des Sicherheitskonzepts und entsprechender Sensorik erkennt KATE Hindernisse und Mitarbeiter. Mittlerweile fahren über 40 davon herum.

„Für den Notfall habe ich immer einen Satz Inbusschlüssel im Arbeitskittel. Man weiß ja nie.“

Pruss: Früher haben wir am Rechner Schichtpläne erstellt und Produktpaletten erfasst. Das war meist in wenigen Minuten erledigt. Heute geht es deutlich digitaler zu. Heute sitze ich täglich bis zu sechs Stunden am Tag vor dem Rechner. Dabei unterstützt uns die Nexeed-Software, die Bosch speziell für Industrie 4.0 entwickelt hat. Kaum zu glauben, was dadurch alles möglich wird. Mit Zettelwirtschaft von damals würde das alles nicht mehr funktionieren. Der Rechner hat den Platz von Werkzeugkiste und Orga-Tafel eingenommen. Aber für den Notfall habe ich immer einen Satz Inbusschlüssel im Arbeitskittel. Man weiß ja nie.

Müller: Daten kann man natürlich nicht sehen, spektakulärer für das Auge sind da schon rotierende Roboter. Für mich dagegen ist revolutionär, dass ich heute mit einem Klick sämtliche Daten der Produktion zur Verfügung habe. Früher hätte es mehrere Tage gedauert, das zu erfassen und aufzubereiten. Diese sind auch Grundlage für „Predictive Maintenance“, also die vorausschauende Wartung von Maschinen und Anlagen. Vereinfacht ausgedrückt, teilt bei Industrie 4.0 ein Bauteil mit: „Wechsel mich aus, bevor alles stillsteht.“

Pruss: Die Arbeit ist anspruchsvoller geworden – gerade für den Kopf. Daher ist es wichtig, nach einer Schicht einen Weg zu finden, abzuschalten. Ich bastele nach Feierabend gerne in meiner Holzwerkstatt und kann gut dabei entspannen. Früher war vor allem die körperliche Arbeit anstrengend. Autonome Transportsysteme, Robotik und digitale Tools sorgen für Entlastung, das Denken übernehmen sie nicht.

Müller: Wir sind das Leitwerk für dreizehn Standorte von Bosch weltweit. Viele Entwicklungen werden von hier angestoßen. Das gilt auch für Industrie- 4.0-Anwendungen. Aktuell rollen wir bei uns eine Bosch-Software zur Prozesssteuerung aus, die anschließend auch in anderen Werken zum Einsatz kommen soll. Damit können wir die aktuelle Fertigungssituation im Werk in Echtzeit auf Bildschirmen abbilden. Ich stehe mit vielen Menschen in Kontakt, muss viel kommunizieren und vermitteln. Meine Rolle zeigt, technische Berufe sind auch etwas für Frauen. Ich selbst bin keine „Hardcore-Coderin“. Und das muss man auch nicht sein, um die vernetzte Industrie zu gestalten.

Kurz vor dem Schulabschluss habe ich noch unentschlossen einige Kurzpraktika gemacht. Etwa bei Peek & Cloppenburg als Gestalterin für visuelles Marketing, was früher Dekorateurin hieß. Hier war letztlich nicht der Beruf dabei, den ich mir für meine Zukunft vorstellen konnte. Von der Familie her gab es keine Vorgaben. Alle machen etwas anderes. Meine Mutter arbeitet als soziale Mitarbeiterin, der Vater in der Verwaltung einer Bäckerei, mein Bruder hat Bankkaufmann gelernt. An Industrie hatte ich gar nicht gedacht, obwohl Amazone in der Gegend ein großer Name ist. Bei einer Firmenpräsentation hat es schließlich gefunkt, da die Möglichkeiten rund um die Technik mich faszinierten. Erster Schritt war die Ausbildung zur Industriemechanikerin. Seitdem bin ich im Freundeskreis die, die gerne mit anpackt. Es amüsierte viele, weil mein Bruder morgens im Anzug ins Büro fuhr und ich in Arbeitshose in die Werkstatt.

Wir stellen Landmaschinen her für die Boden- und Pflanzenbearbeitung, also Pflüge, Feldspritzen oder Sätechnik. Das ist heute verbunden mit viel Hightech, wenn die Bauern ihre Bedien-Computer per Touchscreen einsetzen. Es gibt GPS-Landkarten oder eine spezielle Sensorik, die sich bei der Düngung genau auf die jeweiligen Felder einstellt. Da trifft Ursprüngliches, die Firma existiert seit 1883, auf digitale Zukunft; was auch für meinen bisherigen Werdegang gilt. Wenn etwa in der Produktion unsere CNC-Drehmaschine ausfällt, muss ich ran. Erst neulich hatten wir einen schwierigen Fall.

Es war kurz vor Feierabend, Schichtübergabe. Alles schien behoben, als am unteren Revolver noch irgendwo Öl tropfte. Jetzt aber schnell – alle Abdeckungen wieder runter! Es stellte sich heraus, dass ein neues Rohr gebogen werden musste, da das alte undicht war. Mit Unterstützung der Kollegen konnten wir das gerade noch rechtzeitig beheben. Ich bin also regelmäßig in den Produktionshallen und kümmere mich um Wartung oder Reparaturen. Dazu sitze ich im Büro und bin für die Planung verantwortlich. Darunter fallen die vorbeugende Instandhaltung, damit kaum Ausfallzeiten entstehen, die externe Firmenverwaltung sowie die generelle Digitalisierung in unserer Abteilung. Das rechtzeitige Auswechseln von Verschleißteilen spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Verfügbarkeit von Fachpersonal.

Nebenbei mache ich noch meinen staatlich geprüften Techniker. Meinen Werdegang seit der Ausbildung würde ich schon „new work“ oder „Work 4.0“ nennen, da ich gerade im digitalen Sektor einen großen Schritt in Richtung Zukunft gemacht habe. Auch wenn es bei uns im Werk noch keine Roboterlinien in der Produktion gibt wie in der Autoindustrie. Schließlich haben wir in der Ausbildung noch an Klötzen aus Baustahl herumgefeilt. Drei Millimeter mussten da runter. Ganz schön anstrengend und auch ziemlich altmodisch. Für mich war es sehr wichtig, dass man mich hier von Anfang an ernst genommen und auf meinem weiteren Weg unterstützt hat.

„Die Einbindung von Frauen ist mir genauso wichtig wie Fragen der Digitalisierung.“

In meiner Ausbildungszeit waren eine Technikantin und ich die einzigen Frauen. Wir haben eine Art Tandem gebildet, doch nach drei Monaten war ich allein in der Männerrunde. Doch kein Problem, das lief kollegial. Wenn es mal Schweres zu heben gab, sind die Jungs eingesprungen. Da ich die erste Industriemechanikerin war, wurden mit mir die ersten Frauenumkleiden errichtet. Die Einbindung von Frauen ist für mich ebenso wichtig wie Fragen der Digitalisierung.

Ich sehe mich als Praktikerin, der es Spaß macht, sich zu engagieren, mit Technikverständnis als Kernkompetenz. In meiner Ausbildungszeit war ich Ausbildungsbotschafterin, um Mädchen in der Schulzeit die Technikbranche näherzubringen und sie bei der Berufsfindung zu unterstützen. Getragen von der Überzeugung, dass ich selbst in dieser Situation war. Fast immer geht es um den Abbau von Vorurteilen gegenüber Industrie und Technik. Ich wollte meine Begeisterung so weitergeben, wie ich bei meiner Firmenpräsentation begeistert wurde.

Meine Ausbildung habe ich Ende der Siebziger gemacht, bei einer Leuchtenfirma in Iserlohn. Während der damaligen Wirtschaftskrise war nach der Lehre Schluss, dann Umschulung zum Betriebsschlosser bei Hoesch. Drei- Schichten-System mit Nachtschicht, nicht mein Ding. Also in den alten Beruf zurück. In eine Lohnschleiferei, wo man eine Menge lernt. Es folgte ein Betrieb, der auch Armaturen für Waschkauen im Bergbau herstellte. Keine Automatisierung; stattdessen strenge Hierarchien vom Jungarbeiter bis rauf zum Meister.

Nun bin ich seit über drei Jahrzehnten bei Dornbracht im High-End-Segment. Wir bearbeiten sehr hochwertige Armaturen. Diese kommen aus der Gießerei und werden von uns durch Schleifen und Polieren veredelt. Neben den glänzenden Oberflächen sind Mattierungen gerade sehr gefragt. Eine komplexe Bearbeitung, die nicht jeder draufhat. Während wir uns spezialisiert haben, mit weltweiten Kunden im Design- und Luxussegment, wurden einige Armaturenfirmen hier am Rande des Ruhrgebiets geschlossen oder aufgekauft. Marktbereinigung heißt das wohl. Bei uns lief das genau umgekehrt.

„Wir sind die Spezialistentruppe mit digitalen Kollegen nebenan.“

Wir hatten etwa 75 Schleifer und Polierer und konnten die Materialmenge nicht mehr bewältigen. Man sitzt ja mit seiner Armatur vor einer großen, rotierenden Scheibe und bringt sie durch sanfte Bewegungen in ihre Form. Das ist ja eine Kunst, von daher haben wir die aufkommende Automatisierung erst mal belächelt. „So ein Roboter soll schleifen können!?“ Mittlerweile kommen zu den manuellen Stationen Zonen, in denen die elektronischen Kollegen wirbeln. Ich war dabei, als wir den Programmierern erläutert haben, was so eine Maschine können muss. Ich begleite auch praktisch, wenn ein Roboter eingerichtet wird. Und schaue mir im Einzelfall an, wie etwa das Mattierbild aussieht, und gebe dann Hinweise wie „mehr Druck“, „weniger Druck“, „absetzen, etwas schräger“. Bis wir letztlich die Qualität haben, die unser Anspruch ist.

Früher war unser Job wesentlich härter. Dafür war das Gemeinschaftsgefühl stärker ausgeprägt. Unser Bereich mit 75 Schleifern stellte schon eine gewisse Macht dar. Doch zu Revolten ist es nie gekommen (lacht). Dafür identifiziert man sich zu sehr mit den Produkten. Etwa die neue Armatur „Cyo“. Außen poliert, Innenflächen mattiert. Das ist handwerklich großes Kino. Da kommt es schon mal vor, dass man sich gegenseitig auf die Schultern klopft, wenn etwas besonders gelungen ist. Wir sind die Spezialistentruppe, mit digitalen Kollegen gleich nebenan.

Unsere Zukunft ist auch vom Design bestimmt. Welche Form, welche Körper können wir mit dem Roboter produzieren? Stimmt die Qualität, sieht es gut aus, was sagt der Kunde? Der Roboter weiß nur, was ich ihm erkläre. Insofern wird die Nachfrage nach Skills und Brain weiterhin bestehen. Aber geeigneter Nachwuchs ist rar gesät. Wir haben Quereinsteiger, meist Mitte bis Ende zwanzig. Nach zwei Wochen entscheide ich, ob die Fähigkeiten ausreichen. Eine Annonce „Schleifer/ Polierer mit Mattierungskenntnissen gesucht“ braucht man gar erst nicht aufzugeben. Oberflächentechniker klingt da schon spannender.

Ich habe 2004 bei Siemens eine Ausbildung zum Mechatroniker begonnen, mein Wunschberuf. Der Mechatroniker war damals ein neues Berufsbild, in dem sich bereits abzeichnete, wohin die Reise geht: Elektronik und elektronisches Verständnis werden immer wichtiger in der industriellen Arbeit.

In der klassischen Mechaniker-Ausbildung hantiert man ausgiebig an seinen Werkstücken herum. Ein Drehen oder Bohren, worauf die Mechatroniker- Fraktion nicht so tief einsteigt. Zum Glück, da ich den elektronischen Teil eh spannender fand. Im ersten Jahr waren wir die meiste Zeit in der Lehrwerkstatt. Danach durften wir die erworbenen Skills im Sondermaschinenbau zeigen. Bei der Verdrahtung einer Anlage oder dem Aufbau von Sensorik-Systemen. Ich war richtig stolz, an Projekten mitgebaut zu haben, die später im Werk eingesetzt worden sind.

Wir bauen industrielle Antriebe und Frequenzumrichter. Das sind Geräte mit komplexem Innenleben, die Motoren steuern. Früher wurden manche Teile komplett auf der Werkbank gefertigt, andere in einer Linie. Heute mit der Automatisierung greift das ineinander über. Früher hat ein Arbeiter das Innenleben montiert und die Gehäusehülle mit gut 20 Schrauben verschraubt. Das übernimmt nun eine Leichtbauroboteranlage, die wir entworfen und gebaut haben. Ein Produktionshelfer von nebenan, der mittlerweile über drei Millionen Schrauben verschraubt hat.

„Manchmal treffe ich auf Ängste, aber wir wollen alle Mitarbeiter mitnehmen.“

Heute plane und installiere ich unsere Automatisierungsanlagen, mit denen wir auch Standards für unsere Partnerwerke entwickeln. Dabei treffe ich auf Vorbehalte und Ängste, denn Aufgabengebiete ändern sich. Allerdings ist der Erfahrungsschatz der Kollegen extrem wertvoll: Sie wissen, worauf müssen wir achten, welche Details sind wichtig? Es bringt nichts, Anlagen hinter geschlossenen Türen zu entwerfen. Das sorgt nur für Unzufriedenheit. Wir wollen alle Mitarbeiter und den Betriebsrat mitnehmen. Ein Beispiel ist die Fertigungslinie, wo fertige Produkte verpackt werden: Gerät in einen Karton heben, verschließen und das Ganze auf die Palette wuchten, sodass unser fahrerloses Transportsystem die Palette abholen kann. Wir haben es geschafft, dem Werker 14 Kilo Hebekraft zu ersparen. Das klingt nicht viel, doch bei 400 Geräten summiert sich das pro Schicht auf knapp sechs Tonnen, die früher gestemmt werden mussten.

Bei mir im Team haben sich sieben von zehn Leuten weitergebildet. In der Produktion bedeutet das: vom Montagemitarbeiter zum Anlagenbetreuer. Viel läuft über selbständiges Lernen und geht oft in kleinen Schritten. Auf unserer Trainingsplattform „My Learning World“ kann man sich selbst weiterbilden mit Videotrainings oder Fragen an virtuelle Programme stellen. In einem Maker Space kann man selbst programmierte Teile am 3-D-Drucker ausdrucken. Wir helfen uns über Standorte hinweg in Technologie-Arbeitskreisen; wenn ein Kollege eine spezifische Frage hat, dauert es im internen Chat keine fünf Minuten, und schon sind drei Antworten eingetrudelt. Man muss nicht alles selbst erfinden. Das große Thema „Industrie 4.0“ muss runter vom hohen Sockel und rein in die Köpfe. Durch Austesten, mit eigenen Ideen. Anders geht es nicht.

Quelle: F.A.Z. Quarterly

Arbeiterklasse 4.0: Sechs Beschäftigte schildern ihren Alltag in modernen Werkhallen

Der klassische Blaumann hat vielerorts ausgedient. Doch auch in der High-End-Fertigung heißt es „Arbeiter bleibt Arbeiter“. Sechs Beschäftigte schildern ihren Alltag in modernen Werkhallen.

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