Tragödie von Smolensk: Fehler der Ermittler und Verschwörungstheorien - DER SPIEGEL

2022-11-03 15:43:47 By : Mr. Jack Zhang

Tragödie von Smolensk: Das Versagen der Smolensk-Ermittler

Jaroslaw Kaczynski trägt noch immer Trauer. Auch zwei Jahre und acht Monate nach der Flugzeug-Katastrophe von Smolensk zeigt sich der polnische Oppositionsführer nur in Schwarz. Am 10. April 2010 war sein Zwillingsbruder, Staatschef Lech Kaczynski, beim Absturz der Präsidentenmaschine in Russland ums Leben gekommen.

Bei dichtem Nebel war die Tupolew 154 M in eine Baumgruppe gerast und zerborsten. Es war ein Unglück, eine nationale Tragödie, erklären polnische und russische Ermittler unisono. Jaroslaw Kaczynski jedoch ist davon überzeugt, dass die 96 Menschen an Bord einem Anschlag zum Opfer gefallen sind. Immer wieder deutet er an, dass der russische Geheimdienst mit Wissen der polnischen Regierung seines Erzrivalen Donald Tusk die Fäden gezogen haben könnte.

An diesem Donnerstag wird Kaczynski seine Weltsicht erneut unter das Volk bringen. Bei einem "Marsch der Unabhängigkeit" will seine nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PIS) am Abend an die Verhängung des Kriegsrechts in Polen vor 31 Jahren erinnern. 10.000 Demonstranten werden erwartet.

Für Kaczynski dürfte dies ein willkommener Anlass sein, um einmal mehr vor einer Bedrohung durch Moskau zu warnen. Und um seinen Landsleuten den "Mord von Smolensk" ins Gedächtnis zu rufen. Seine schwarze Kleidung wird dabei signalisieren: Nichts ist vergessen, nichts ist vorbei.

Kaczynskis Mahnungen fallen in Polen zunehmend auf fruchtbaren Boden. Ein Drittel der Menschen glaubt inzwischen an die Anschlagstheorie. Vom Gegenteil sind 56 Prozent der Bürger überzeugt. Im Mai waren es noch 63 Prozent.

Verantwortlich für die wachsende Skepsis ist eine Pannenserie bei den Smolensk-Ermittlungen. Die auf polnischer Seite federführende Militärstaatsanwaltschaft muss sich nach einer Kette von Fehlern sogar den Vorwurf gefallen lassen, aus Dilettantismus oder bösem Willen die Wahrheit zu verschleiern. Selbst der sozialistische Abgeordnete Ryszard Kalisz, ein bekennender Kaczynski-Gegner, erklärt: "Die Staatsanwälte müssen erst noch richtig sprechen lernen." Mit anderen Worten: Sie verhalten sich wie kleine Kinder.

Wer sich ein Bild von dem bizarren Ermittlungseifer der Militärstaatsanwälte machen wollte, der brauchte in der vergangenen Woche nur den Worten des Chefanklägers Ireneusz Szelag lauschen. "Wir haben die Sprengstoffdetektoren an eine Flasche Parfum, eine Dose Schuhcreme und an ein Würstchen gehalten. Jedes Mal hat das Gerät TNT-Alarm ausgelöst", erklärte Szelag bei einer Anhörung im Sejm, dem polnischen Parlament.

Das Bekenntnis zu dem kuriosen Wursttest war der Höhepunkt des neuesten Ermittlungsskandals. Er rankt sich um den angeblichen Fund von Sprengstoffspuren am Wrack der Kaczynski-Maschine und um die Frage: Gab es womöglich doch eine Explosion an Bord?

"Die Detektoren haben TNT angezeigt"

Ende Oktober hatte die konservative Zeitung "Rzeczpospolita", die Kaczynski nahesteht, eine Enthüllungsgeschichte über den Nachweis von "TNT am Wrack der Tupolew" veröffentlicht. Noch am gleichen Tag dementierte Szelag. "Weder am noch im Wrack wurden TNT oder ein anderer Sprengstoff gefunden", sagte der Staatsanwalt. Kurz darauf mussten bei der "Rzeczpospolita" der Chefredakteur und der Autor des Textes ihren Hut nehmen.

Erst im Kreuzverhör der Abgeordneten gestanden Szelag und seine Kollegen nun ein, dass die Detektoren bei der Untersuchung am Wrack sehr wohl angeschlagen hatten. "Sie haben TNT angezeigt. Aber das heißt nicht, dass dort auch Sprengstoff vorhanden war", erklärten die Ermittler im Sejm. Der Würstchentest sollte die Unzuverlässigkeit der Geräte belegen.

Ob es am Wrack der Tupolew tatsächlich TNT-Spuren gibt, sollen weitere Labortests klären. Die aber werden laut Staatsanwaltschaft mehrere Monate dauern. "Das ist höchst befremdlich", wundert sich der Sozialist Kalisz und fragt: "Warum braucht das so lange, und warum wurden die TNT-Tests nicht bereits im Jahr 2010 durchgeführt?" Von der Anschlagstheorie hält Kalisz trotzdem nichts. "Mich würde es nicht überraschen, wenn an dem Wrack TNT zu finden wäre", erklärt er. Das Flugzeug sei "wiederholt mit Soldaten an Bord nach Afghanistan und in den Irak geflogen".

Peinlich ist die TNT-Affäre für die Smolensk-Ermittler allemal. Sie waren es schließlich, die jene Detektoren zum verspäteten Einsatz am Wrack brachten, die sie nun für ungeeignet halten. Der Hersteller der Geräte bestreitet das vehement. "Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Wenn die Detektoren TNT-Spuren anzeigen, dann gibt es auch TNT-Spuren", sagte ein Sprecher des Produzenten bei der Anhörung im Sejm. Also doch eine Bombe?

Welch verwirrende Wirkung der Wirbel hat, zeigt ein Blick auf die Faktenlage. Mit ein wenig Abstand zum Geschehen lässt sich sagen: Nichts spricht für einen Sprengstoffanschlag auf die Kaczynski-Maschine. Weder die Bruchstellen des Wracks noch die Art der Verletzungen an den Leichen lassen Rückschlüsse auf eine Explosion an Bord zu. Vor allem aber hat der Flugschreiber keine Detonation aufgezeichnet.

"Es fehlte sogar an Dolmetschern"

So erklären es die Spezialisten. Doch die Überzeugungskraft der Staatsanwälte und ihrer Experten schwindet dramatisch. Fast zwei Drittel der Polen wünschen sich inzwischen eine unabhängige internationale Untersuchung - und dies nicht ohne Grund, denn die TNT-Affäre war keineswegs die erste Fehlleistung der Behörden.

So ließen die Ermittler in den vergangenen Monaten rund ein Dutzend Leichen von Smolensk-Opfern ausgraben, weil es erhebliche Zweifel an der Identität der Toten gab. Bei den Exhumierungen stellte sich heraus, dass mehrere Leichen im Chaos nach der Katastrophe vertauscht oder falsch identifiziert worden waren. Darunter waren die sterblichen Überreste der legendären Solidarnosc-Mitbegründerin Anna Walentynowicz und des letzten polnischen Präsidenten im Exil, Ryszard Kaczorowski.

Bislang förderte das unappetitliche Schauspiel mindestens sechs "falsche Leichen" zu Tage. Weitere Exhumierungen sind nicht ausgeschlossen. Die Schuld an den peinlichen Grabungsaktionen weisen die Warschauer Ermittler der russischen Seite zu. Die Särge seien falsch deklariert worden. Der polnische Arzt Dymitr Ksiazek, der die Identifizierung ungeplant mitbetreute, berichtete kürzlich: "In Moskau herrschte am 11. April 2010 Chaos. Die Russen ließen unsere Spezialisten mit DNA-Testgeräten nicht zu den Toten. Es fehlte sogar an Dolmetschern. Ich war gekommen, um die Angehörigen medizinisch zu betreuen. Dass ich bei der Identifizierung helfen sollte, wusste ich nicht. Plötzlich standen wir im Leichenkühlraum."

Tatsächlich ist kaum von der Hand zu weisen, dass die russischen Ermittler im Fall Smolensk ebenfalls zahlreiche Fehler gemacht haben. So mangelte es in dem Abschlussbericht, den die russische Untersuchungskommission im Januar 2011 einseitig präsentierte, an jeglicher Selbstkritik. Keine Rede war davon, dass der zumeist ungenutzte Militärflughafen in Smolensk für eine Landung bei dichtem Nebel nicht geeignet war und nach den Vorschriften hätte geschlossen werden müssen. Zudem versorgten die Lotsen das Cockpit mit falschen Daten und warnten die Piloten zu spät.

Viele Fragen sind bis heute unbeantwortet geblieben

Stattdessen wiesen die Russen den Polen die gesamte Schuld an der Katastrophe zu. Verantwortlich seien die Piloten und Luftwaffenchef Andrzej Blasik gewesen. Der General soll sich nach den Moskauer Erkenntnissen beim Anflug der Präsidentenmaschine auf Smolensk im Cockpit befunden und die Besatzung zur Landung gedrängt haben. Mehr noch: Blasik sei angetrunken gewesen. Beides zogen polnische Experten später in Zweifel. Der Promillebefund (0,6) habe sich auch durch chemische Prozesse im toten Körper ergeben können. Außerdem ordneten die Polen die Stimmen, die der Voice Recorder aufgenommen hatte, anders zu als die Russen.

Bis heute sind die Aufzeichnungen des Stimmenrekorders nur unzureichend ausgelesen. Ein Speziallabor in Krakau konnte lediglich die Hälfte der Personen, die auf dem Band zu hören sind, sicher identifizieren. "Der Lärmpegel im Cockpit war zu hoch", erklärte Staatsanwalt Szelag schon vor Monaten bei der Präsentation des Gutachtens. "Wozu gibt es dann überhaupt Stimmenrekorder und Spezialisten für ihre Analyse?", konterten kritische Kommentatoren.

Fest steht: In 32 Monaten der Smolensk-Untersuchungen ist es den polnischen und russischen Ermittlern nicht gelungen, ein klares Bild vom Hergang der Katastrophe zu zeichnen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit füllen mehrere hundert Aktenordner. Alles spricht für ein Unglück. Viele Fragen sind jedoch bis heute unbeantwortet geblieben - bis hin zu der Hypothese, Präsident Lech Kaczynski habe die Landung persönlich befohlen.

Das Versagen der Smolensk-Ermittler gibt Jaroslaw Kaczynski immer wieder Auftrieb. Seine Partei PIS hat eine eigene Untersuchungskommission gebildet. Wie kaum anders zu erwarten, stützt deren Material die Anschlagsthese und liefert Verschwörungstheoretikern Munition. Der Flugschreiber sei nach dem Absturz manipuliert worden, behauptet Kaczynski und fügt hinzu: "96 Menschen wurden in Smolensk ermordet. Es war ein unerhörtes Verbrechen." Von diesem Vorwurf wird er nicht mehr abrücken, selbst wenn er eines Tages die Trauerkleidung ablegen sollte.

Abgestürzte Tupolev in Smolensk: Am 10. April starben 96 Menschen.

Die genaue Ursache ist weiterhin unklar, obwohl der Voice Recorder ausgewertet worden ist und russische und polnische Ermittler zahlreiches Material durchforstet haben.

Es halten sich Gerüchte, dass am Wrack Spuren von TNT gefunden worden seien. Nun sollen Tests Gewissheit bringen - über zwei Jahre nach der Katastrophe.

Die Särge von Lech Kaczynski und seiner Frau Maria am Flughafen von Krakau: Es kam zu Verwechslungen der Leichen, nur eine von vielen Pannen nach dem Unglück.

Wladimir Putin und Donald Tusk am Unglücksort im April 2010: Jaroslaw Kaczynski deutet immer wieder an, dass der russische Geheimdienst mit Wissen von Tusks Regierung die Fäden gezogen haben könnte.

Trauernde an den Särgen von Lech und Maria Kaczynski: Ein Drittel der Polen glaubt, der Absturz sei die Folge eines Anschlags gewesen.

Jaroslaw Kaczynski am 11. April 2010 am Sarg seines Zwillingsbruders: Er trägt bis heute Trauer.

Gedenken in Polen: Die Pannenserie hat die Skepsis der Bevölkerung am Unglück von Smolensk wachsen lassen.

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